GELD-Magazin, Juli/August 2022
Hunderte Milliarden Euro D ie humanitäre Katastrophe in der Ukraine ist enorm: Millionen Men- schen wurden in die Flucht ge- schlagen, die Zahl der Verletzten und Toten kann nur grob geschätzt werden. Laut Zäh- lungen des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte sind bis zum 22. Juni 2022 mindestens 4634 Menschenleben al- leine in der ukrainischen Zivilbevölkerung zu beklagen, darunter zumindest 320 Kin- der. Aber es wird auch ein wirtschaftlicher Krieg ausgefochten: Rund die Hälfte des BIPs der Ukraine ist bisher vernichtet wor- den. Der Wiederaufbau werde hunderte Milliarden Euro verschlingen, erklärt Olga Pindyuk dem GELD-Magazin. Sie wurde in der Ukraine geboren und studierte Ökono- mie in Kiew. Heute ist sie Ukraine-Speziali- stin am Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche. Vorab: Vielen Menschen fällt es schwer, die Gründe für den Krieg in der Ukraine zu begreifen. Können Sie die Ursachen halbwegs erklären? Die Gründe Russlands für den Angriffskrieg haben nur sehr wenig mit Ökonomie zu tun. Es gibt keine guten wirtschaftlichen Argu- mente für den Überfall, denn auch Russ- land leidet ökonomisch unter dessen Fol- gen. Offiziell wird der Ukraine ihre Exi- stenzberechtigung als Nation vom Kreml ab- gesprochen, das Konzept der ukrainischen Nation soll vernichtet werden. Natürlich weiß niemand, wie lange der Krieg noch andauert. Aber haben Sie eine Einschätzung, wie die Entwicklung weitergehen könnte? Das ist von vielen schwer vorhersehbaren Faktoren abhängig. Klar ist jedenfalls: Die Ukraine ist auf Unterstützung vom Westen angewiesen, und zwar militärischer sowie finanzieller Art. Ohne diesen Support ist die Verteidigung nicht möglich. Derzeit scheint es so, als würde die Unterstützung anhalten bzw. sogar ausgebaut werden, etwa was die Lieferung schwerer Artillerie betrifft. Es gibt also viele Unsicherheiten, die den weiteren Kriegsverlauf schwer pro- gnostizierbar machen, vor allem für Öko- nomen. Putin zeigt bis jetzt keine Bereit- schaft, die Attacken einzustellen, wobei es für Russland aber schwierig erscheint, wei- te Landstriche der besetzten Gebiete zu kontrollieren. Im Norden hat sich für Russ- land jedenfalls kein Erfolg gezeigt, was für limitierte Kapazitäten spricht. Vorstellbar ist, dass Teile der Kampfgebiete „eingefro- ren“ werden, wie man das schon oft rund um den Globus gesehen hat. Am Schlimmsten ist natürlich humani- täres Leid, kann man aber auch in Zah- len abschätzen, wie groß der ökono- mische Schaden für die Ukraine ist? Das menschliche Leid durch den Ukraine-Krieg kennt keine Grenzen. Aber auch der ökonomische Schaden ist enorm, weiß Expertin Olga Pindyuk vom Wiener Institut für InternationaleWirtschaftsvergleiche. HARALD KOLERUS Credits: beigestellt; misu/stock.adobe.com Mit 8. Juni belief sich der direkte Verlust für die ukrainische Wirtschaft durch die Be- schädigung und Zerstörung von Wohn- und Nichtwohngebäuden sowie Infrastruktur auf 103,9 Milliarden Dollar oder drei Billi- onen ukrainische Hrywnja. Das entspricht in etwa der Hälfte des BIPs des Landes. Seit Beginn des Krieges Russlands gegen die Uk- raine wurden mindestens 44,8 Millionen Quadratmeter Wohnfläche, 256 Unterneh- men, 656 medizinische Einrichtungen, 1.177 Bildungseinrichtungen, 668 Kinder- gärten, 198 Lagerhäuser, 20 Einkaufszen- tren und 28 Öldepots beschädigt, vernich- tet oder beschlagnahmt. Diese Zahlen stammen vom KSE Institute, einem Think- Tank an der Kyiv School of Economics. Das sind die Ausmaße der bisherigen Zerstö- rung, durch die eingeschränkten ökono- mischen Aktivitäten fallen die Kosten aber noch höher aus. Können Sie das noch weiter ausführen? Aufschlussreich sind die Ergebnisse der dritten Umfrage, die von der European 12 . GELD-MAGAZIN – Juli/August 2022 INTERVIEW . Olga Pindyuk, WIIW
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