GELD-Magazin, Oktober 2020
breite Geldmengenaggregat drastisch er- höhten, der Geschwindigkeit der wirt- schaftlichen Erholung und den damit ver- bundenen prozyklischen Effekten der Liqui- ditätsspritzen, sowie der veränderten Rolle Chinas vom Deflationsexporteur zu einer neutralen und in Zukunft inflationären Kraft. Der Paradigmenwechsel der Zentral- banken, der ein Überschießen über das Zwei-Prozent-Ziel erlaubt, wird die Zinsen auch aufgrund der hohen öffentlichen und privaten Verschuldung niedrig halten müs- sen. Was für einen Sinn macht es schon, Un- ternehmen im Jahr 2020 zu unterstützen und im nächsten Jahr durch steigende Zin- sen an die Wand fahren zu lassen? Besser ist es, die übermäßige Verschuldung der Be- triebe und Regierungen auf Kosten höherer – und aus aktueller Sicht der Zentralbanken gerechtfertigter – Preisniveaus einfach weg- zuinflationieren. tiven Warenkorb basiert, der sich im Laufe der Zeit verändert. Statistikämter in den meisten Ländern aktualisieren ihre Verbrau- cherpreiszusammensetzung nur einmal im Jahr und verwenden häufig verzögerte Da- ten. Keine Statistik kann die Lebenshal- tungskosten daher perfekt erfassen. In nor- malen Zeiten neigen sie dazu, die wahre In- flationsrate überzubewerten. Veränderte Konsummuster in Zeiten der Pandemie dürf- ten aber eher dazu führen, dass diese unter- schätzt wird. Konsumenten legen heute we- niger Wert auf Reisen, Restaurantbesuche und Hotels, jedoch wesentlich mehr auf Nahrungsmittel. Einer aktuellen Studie der Harvard Business School zufolge führt dies zu erheblichen Verzerrungen. Alberto Caval- lo untersuchte dazu Kredit- und Debitkar- tentransaktionen der Verbraucher und fand heraus, dass die Gewichtung von Lebensmit- tel um drei Prozent stieg, Transporte (Reise- BRENNPUNKT . Inflation Argumente für Inflation Die geld- und fiskalpolitischen Maßnahmen in der COVID- Krise unterscheiden sich grundlegend von jenen in der Finanzkrise. 2008 wurde viel Geld zur Verfügung gestellt, um primär die Solvenz der Banken aufrechtzuerhalten – es war eine Kreditkrise. In der COVID-Krise reduzieren sich hingegen Einkommen und Gewinne. Daher zielt man heute vor allem auf die direkte Injektion von Kapital in die Realwirt- schaft ab. Solange die Krise anhält, dürfte ein Großteil davon noch gehortet werden, doch sobald sich die Wirtschaft erholt, sollten die Ausgaben und die Geldumlaufgeschwindigkeit zunehmen. Heute sind Banken viel besser aufgestellt, was zu einer schnelleren Kreditvergabe führen wird, sobald sich die Einkommen erholen. Die Bereitschaft der Zentralbanken, In- flationsverluste der vergangenen Jahre auszugleichen, dürfte dies unterstützen. Weiters ist davon auszugehen, dass Störun gen der globalen Lieferketten Preissteigerungen erzeugen, sobald sich die Nachfrage erholt. Längerfristig könnten auch Ängste im Bezug auf die Versorgungssicherheit Handelskon- flikte verschärfen (günstige Importe und technologischer Fortschritt waren treibende Kräfte hinter dem langjährigen Desinflationstrend). Nicht außer Acht zu lassen ist auch die inflationstreibende Wirkung steigender Aktienmärkte, da Aktionäre viel eher bereit sind, Geld auszugeben, wenn ihre Vermögensbestände steigen. Argumente für Deflation Staatliche Interventionen konnten viele Einkommenseinbu- ßen nur abmildern, die Sparquote stieg trotz der niedrigeren Einkommen an. Auch nach einer vollständigen Wiederöffnung der Wirtschaft ist nicht klar, ob und wie lange die Ängste der Bevölkerung um Gesundheit und Arbeitsplatz eine Rückkehr des Konsums zum Vorkrisenniveau verhindern. Dem gegen- über steht eine Angebotsseite, die die Krise mit Hilfe der riesigen Rettungspakete größtenteils insolvenzfrei überste- hen könnte. Produktionsengpässe nach der Öffnung dürften daher kaum der Fall sein, was zu einemWarenüberangebot führen kann. Auch langfristige strukturelle Veränderungen der Wirtschaft könnten einer der Gründe für ein Ausbleiben der Inflation darstellen. Theorien darüber handeln von disinflatio- nären Effekten der fortschreitenden Globalisierung, der Wei- terentwicklung produktivitätssteigernder Technologien und einer schwächeren Verhandlungsmacht der Arbeitnehmer durch den Niedergang von Gewerkschaften und die rasante Entwicklung der Gig-Ökonomie. Besonders viel Aufmerksam- keit genießt in den letzten Jahren auch die These, dass der demografische Wandel Inflation langfristig unterdrückt. Die al- ternde Bevölkerung in den Industrieländern verhindert dem- nach einen Anstieg der Preise, da die Ausgaben nach einem bestimmten Alter im Verhältnis zu den Konsumgewohnheiten jüngerer Konsumenten tendenziell abnehmen. kosten) sich um neun Prozent reduzierten. Das Problem ist, dass Maßnahmen wie Sozi- alleistungen anhand von Inflationsanpas- sungen berechnet werden, die die höheren Lebenshaltungskosten während einer Pan- demie nicht widerspiegeln. Diese vorüberge- hende Verschiebung ist jedoch relevant, da sie die Diagnose unserer gegenwärtigen wirtschaftlichen Probleme verändert. Nach der Krise Vorherzusagen, was genau nach dem voll- ständigen Wiederhochfahren der Wirtschaft mit den Preisen passieren wird, ist schwie- rig, doch das Pendel schwingt nach Ansicht vieler Beobachter eher in Richtung Inflati- on. Der renommierte Ökonom Charles Goodhart geht beispielsweise von einer In- flationsrate in der Größenordnung von fünf bis zehn Prozent aus. Gründe dafür sieht er in den immensen Stimuluspaketen, die das 12 . GELD-MAGAZIN – Oktober 2020
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