GELD-Magazin, Mai 2020
Nachgeschlagen. Dieses Werk des ehema- ligen US-Außenministers unter Richard Nixon stammt zwar aus dem Jahr 2014 – es ist aber immer wieder wert, einen Blick hineinzuwerfen. Denn der große Verdienst des Wälzers (knapp 500 Seiten) ist nicht so sehr die tagespolitische sondern die histo- rische Betrachtung der „Weltordnung“. Kis- singer setzt hier vor allem beim Westfä- lischen Frieden (1648) an, der den Drei- ßigjährigen Krieg beendete und die Wei- chen für unsere moderne Welt stellte. Denn damals wurden die Grundlagen des souveränen Nationalstaates gesetzt, inklu- sive der Praxis der Nichteinmischung in in- nere Angelegenheiten. Natürlich funktio- nierte das in Wirklichkeit, wie wir alle wis- sen, nicht immer reibungslos. So stellte zum Beispiel der Kommunismus, führend vertreten durch die Sowjetunion, einen universellen Geltungsanspruch auf, der vor nationalen Grenzen kein Halten kannte. Das gleiche gilt laut Kissinger für den radi- kalen politischen Islam und mit Abstrichen auch für China, das sich traditionell als Na- bel der Welt – eben als Reich der Mitte – betrachtet. Und wie sieht es mit den Verei- nigten Staaten aus? An dieser Stelle sei Kri- tik an einigen Grundaussagen Kissingers in vorliegendem Werk erlaubt. Er beschreibt die USA nämlich als ein Land, das Demo- kratie und Freiheitsliebe praktisch in seiner DNA aufgesogen habe. Amerikanische In- terventionen (ob offen militärisch oder durch Staatsstreiche) werden somit ent- schuldigt oder gar nicht erwähnt. Eine deutlich zu einseitige Sichtweise. Theorie und Praxis. Der Begriff „Kapita- lismus“ kommt heute eher in Studienlehr- gängen der Politologie oder in akade- mischen Gesprächsrunden als im täglichen Sprachgebrauch vor. Als Synonym wird stattdessen zumeist auf „freie Marktwirt- schaft“ zurückgegriffen. Das halten die Philosophen Nancy Fraser und Rahel Jaeg- gi für schade, denn natürlich gibt es den Kapitalismus nach wie vor bzw. stärker als je zuvor. Nur worum handelt es sich dabei eigentlich? Diese Frage erörtern die beiden Autoren in diesem Buch in interessanter stilistischer Art und Weise, nämlich in Form eines Dialogs. Dabei meint Fraser etwa, dass es nicht nur darum geht, warum manche mehr und andere weniger haben. Sondern auch, warum so wenige Men- schen jetzt ein stabiles Leben und ein Ge- fühl von Wohlergehen haben; und warum so viele um prekäre Arbeit konkurrieren, mit mehreren Jobs jonglieren, die mit we- niger Rechten, Absicherung und Vergünsti- gungen ausgestattet sind – während sie sich gleichzeitig schwer verschulden. Die- ser Auszug lässt bereits erkennen, dass es sich bei dem Autoren-Duo um keine Ver- fechter des gängigen kapitalistischen Sys- tems handelt. Tatsächlich stammen beide auch aus der als „links“ bekannten Kri- tischen Theorie, die von Kapazundern wie Max Horkheimer, Theodor W. Adorno und Herbert Marcuse geprägt worden ist. Wer also mit Kapitalismus-Kritik überhaupt nichts anfangen kann, ist bei diesem Werk an der falschen Adresse – für andere Leser allerdings ist es eine intelligente Lektüre. Öko-Diktatur? In Österreich ist die Regie- rungsbeteiligung der Grünen noch jung – mit der Coronakrise wurde sie gleich auf eine harte Bewährungsprobe gestellt. In „Die Grünen an der Macht“ geht es aber gar nicht um Österreich, sondern um einen universelleren Blickwinkel und vor allem um Deutschland. Die durchaus provokante These des Autors Ansgar Graw (Historiker und Politologe) lautet: Schon auf dem Weg zum Kanzleramt hätten die Grünen die Macht in Deutschland übernommen. „Von der Klimapolitik über Migration und Ver- kehrswende bis zu Frauenquoten und dem voreiligen Ausstieg aus Atomkraft, Kohle, Erdöl und demnächst auch Erdgas, überall setzen sich grüne Konzepte durch“, werden gleich am Buchdeckel schwere Geschütze aufgefahren. Dabei würden symbolische Verbote, überhöhte Energiepreise und läh- mende Regulierungen nicht das reale Pro- blem der Klimaerwärmung lösen, sondern Wirtschaft und Wohlstand in Deutschland bedrohen. Der gegenwärtige Ökomoralis- mus könnte sogar in eine Ökodiktatur münden. „Denn nur in einer Diktatur las- sen sich Ressourcen – von der Energie bis zu den Lebensmitteln – rationieren und Größe, Antriebsart und Design von Autos und Wohnungen vorgeben“, heißt es bei- spielsweise. Das ist schon starker Tobak, wobei es gute Argumente gegen diese Sichtweise gibt. Denn ist etwa der Ausstieg aus fossilen Brennstoffen wirklich „vorei- lig“? Das Gros der Klimaforscher würde das wohl vehement bestreiten. Ebenso wie eine Mehrheit der (Welt-)Öffentlichkeit. Kapitalismus Fraser / Jaeggi. Verlag: Suhrkamp. 329 Seiten. ISBN: 978-3-518-29907-4 Weltordnung Henry Kissinger. Verlag: C.Bertelsmann. 478 Seiten. ISBN: 978-3-570-10249-7 Die Grünen an der Macht Ansgar Graw. Verlag: FBV. 304 Seiten. ISBN: 978-3-99013-078-0 BUCHTIPPS . Neuerscheinungen & Pflichtlektüre Credits: beigestellt 82 . GELD-MAGAZIN – Mai 2020
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