GELD-Magazin, Dezember 2019 / Jänner 2020

H enry Kissinger, ehemaliger US- Außenminister und erfolg- reicher Machtpolitiker, soll ein- mal launig gemeint haben: „Wen rufe ich denn an, wenn ich Europa anrufen will?“ Dieses Bonmot verdeutlicht sehr präzise die Grundproblematik der EU: Einzel- staatliche Interessen machen eine ge- meinsame Politik fast unmöglich, einen zentralen Ansprechpartner gibt es nicht. Dass die neue EU-Kommissionspräsi- dentin Ursula von der Leyen dieses Wirr- warr entscheidend entknoten kann, ist zu bezweifeln. „STARKE UNTERNEHMEN“ Die „babylonische Sprachverwir- rung“ zu Brüssel dürfte also weiter fort- gesetzt werden, mit der nicht enden wol- lenden Brexit-Debatte als Krönung. Was spricht in diesem Umfeld für Europa? Franz Weis, Teamleiter Europa-Aktien bei Comgest, sieht das so: „Wer den poli- tischen ,Lärm‘ ignoriert, kann sehr gut in Europa investieren. Es bietet sehr starke Unternehmen und eine Menge Welt- marktführer. Der Hauptsitz eines Un- ternehmens sagt nichts darüber aus, wo und wie das Wachstum generiert wird. Das ist möglicherweise der systema- tische Fehler von Investmentansätzen, die geografische Allokation am Haupsitz einer Aktiengesellschaft festzumachen. Daher verlassen wir uns auf eine Port­ folio-Konstruktion, die zu 100 Prozent Bottom-up-gesteuert ist.“ Fabio Ricelli, Fondsmanager des Fi- delity European Dynamic Growth Fund, schlägt in dieselbe Kerbe: „In Europa gibt es einige erstaunliche Unternehmen, die in ihrer Branche weltweit führend sind. Bei einer Investition in Europa geht es mehr darum, Anteile an diesen großar- tigen Unternehmen zu halten, als sich auf den makroökonomischen Hinter- grund oder die Politik zu berufen.“ Der Profi fügt weiters an, dass Probleme wie der Brexit oder die ungelöste Schulden- situation (vor allem in Italien) die euro- päischen Aktienbörsen zwar hemmen und reale Risiken darstellen, die Aus- wirkungen aber dennoch überschau- ber sind: „Beispielsweise ist nur ein be- grenzter Teil des Marktes direkt vom Bre- xit betroffen. Das Engagement in der britischen Inlandsnachfrage macht nur rund zehn Prozent des MSCI Europe aus, das Ausmaß der Auswirkungen ist je nach Unternehmen unterschiedlich. Ita- lienische Namen sind im Index ebenfalls sehr begrenzt.“ AKTIENMÄRKTE BLEIBEN ATTRAKTIV Blenden wir also einmal Brexit und andere „Störfaktoren“ aus, wie sieht es nun prinzipiell mit der Bewerung euro- päischer Unternehmen aus? Dazu meint Comgest-Spezialist Weis: „Es ist schwie- rig, unterschiedliche Regionen zu ver- gleichen. Die USA sind aufgrund der Do- minanz von Technologieunternehmen selbstverständlich die teuerste Region und die globalen Schwellenländer auf- grund ihrer hohen Zyklizität die billigste. Das war in den vergangenen 20 Jahren auch schon so. Generell kann man die Aktienmärkte als sehr attraktiv bewer- tet ansehen, wenn man sie mit festver- CREDITS: Fidelity International,PiroschkaVan DeWouw REUTERS/stock.adobe.com MÄRKTE & FONDS | Ausblick 2020 – Europa Die Europäische Union „glänzt“ generell durch angewandte Zerstrittenheit: Viele nationalstaatliche Interes- sen blockieren Fortschritte und lassen den „Alten Kontinent“ in der Tat nicht taufrisch aussehen. Abseits des Gezänks und des ewigen Brexit-Desasters finden sich hier aber interessante Investmentchancen mit Welt- marktführern für ein gut diversifiziertes Portfolio. Harald Kolerus Politischer „Lärm“ belastet STAATSANLEIHEN: TIEFPUNKT BEI REALZINSEN IN DER EUROZONE Festverzinsliche Wertpapiere werfen keine Rendite mehr ab, vor allem in Europa (die Grafik nimmt Deutschland als Beispiel). Das macht Aktien aus Performancesicht fast alternativlos. Quelle:Bloomberg,ErsteAssetManagement Rendite Deutschland 10 Jahre minus Inflation 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 4% 2% 0% -2% „In Europa gibt es wirklich großartige Unternehmen, die in ihrer Branche welt- weit führend sind.“ Fabio Ricelli, Fidelity 30 | GELD-MAGAZIN – JÄNNER 2020

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